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Samstag, 18. April 2009

Joachim Losehand: Das Zittern der Empörten

Das Zittern der Empörten [*]
von Joachim Losehand (Oldenburg)

Empörung gehört zur politischen Kultur unserer Tage. Kaum eine Woche vergeht, daß nicht die Wellen der verbalen Entrüstung hochschlagen. Nun leben wir – im sechsten Schöpfungstag gleichsam gefangen–, wie Paulus von Tarsus in seinem Brief an die christliche Gemeinde in Rom formulierte (8,22), in einer Welt, die „unter Geburtswehen ächzt und stöhnt“. Mensch und Welt sind alles andere als perfekt. „Wenn das die beste aller Welten ist,“ fragte Voltaire mit spitzem Blick auf Gottfried Leibniz, „wie sind dann bloß die anderen?“.

Ob rehabilitierte Piusbrüder, Antisemitismus, Kinderpornographie, christliche Kondomverweigerung: die gruppendynamische Affirmation durch Empörung, die Duftmarke der Gerechten, das gegenseitige Schulterklopfen der Aufrechten folgt unmittelbar auf dem Fuße. Pressekonferenzen werden einberufen, mediengerechte Stellungnahmen verbreitet, Entschuldigungen eingefordert, zu Rücktrittsgesuchen wird eingeladen. Und jeder Diskussionsbetrag beginnt natürlich formelhaft mit der Versicherung, man selbst sei natürlich genauso „hoch empört“ und „tief betroffen“.

Eine feste Größe in dieser ritualisierten Auseinandersetzung innerhalb der politischen Kaste Deutschlands ist der Zentralrat der Juden. Kaum eine Organisation hält ihr Instrumentarium von Empörung und Entrüstung durch stetes Üben so gut in Schuß, keine Gelegenheit zu einem kleinen Standkonzert, die unbeachtet und unbenutzt bleibt. Den Luftraum der Deutungshoheit läßt sich der Zentralrat von niemandem streitig machen. Seiner Sensibilität haben wir unter anderem zu verdanken, daß eine der ethischen Grundforderung der antiken stoischen Philosophie – suum cuique – regionalen Käseblättern und intellektuell Unbedarften nun als „Nazi-Slogan“ gilt.[1] Wer auch immer dafür verantwortlich war, daß in die Tore des Lagers Buchenwald dieser Gerechtigkeits-Grundsatz verdreht und mit menschenverachtender Häme eingeschmiedet worden war – er wird sich bösartig kichernd die Hände reiben. Was den einen als „unsägliche Unkenntnis der eigenen Geschichte“ ist, ist den anderen die unsägliche Macht des nationalsozialistischen Terrorregimes und seiner Ideologen, die es bis heute schafft, Begriffe in voller Kenntnis der Menschheitsgeschichte parasitär sich einzuverleiben, zu assimilieren und umzudeuten.

Wie ich überhaupt darauf komme? Bei meiner täglichen Presseschau, die hier in der Diaspora mangels Kaffeehäusern am heimischen Frühstückstisch stattfindet, fand ich in der heutigen „Frankfurter Allgemeinen“ (faz.net) zwei Meldungen, die räumlich und inhaltlich miteinander zu tun haben: a) Der Presserat habe, so wird berichtet, einen FAZ-Artikel nicht beanstandet, der zum Protest des Zentralrats anläßlich der Verwendung des Begriffs „Pogromstimmung“ durch Christian Wulff gegenüber dem Journalisten Michel Friedmann erschien.[2] Der Ministerpräsident Niedersachens hatte seine Sorge über die allgemeine Wut auf die leitenden Angestellten von Finanzinstituten geäußert: die bis dato beobachtbaren Reaktionen auf die offensichtliche Verantwortungslosigkeit würden eine „’Pogromstimmung’ verbreiten“. Der Generalsekretär des Zentralrates, Stephan J. Kramer, hatte mit soignierter Feinfühligkeit reagiert und sich im Fall Wulffs gefragt, „wie viele Sicherungen“ bei dem Politiker „durchgebrannt sein müssen“, ausgerechnet gegenüber – dem für seine hilfsbedürftige Wehrlosigkeit bekannten – Michel Friedmann einen solchen Vergleich anzustellen. Das war vor einigen Monaten.

In der heutigen (Internet-)Ausgabe der FAZ lesen wir – einen Artikel weiter unten –über die „Wut über die Wirtschaftskrise: Die Hatz auf die Schlipsträger“[3] und zeitgleich berichtet die „Süddeutsche“ kritisch über „Die blindwütige Verdammnis aller Anzugträger“[4]. „(Blinde) Wut“, „Verdammnis“, „Hatz“ – sind das nicht die Ingredienzien für, ja: „pogrom“artige Zustände? Wie anders sollten Betroffene eine Lage einschätzen, in der sich Menschen vor ihren Privathäusern zusammenrotten, Scheiben eingeworfen werden und sie Briefe erhalten, in denen ihnen das Schicksal angedroht wird, mittels Klaviersaiten aufgehängt zu werden?

Nun wird man mit Recht einwenden, daß ein kultivierter Mensch kaum ein Pianoforte, auf dem er Bachs Inventionen und Mozarts Sonaten spielt, ausweiden und zu einem solchen Zweck mißbrauchen würde; in der Wahl der Mittel offenbart der Briefschreiber seine soziale Herkunft. Genau das ist das Wesen und die Wirkung des Pogroms: blinder und zerstörerischer „Volks“zorn, der sich seine Schneise der Verwüstung von Werten – und Wertgegenständen – seine Bahn schlägt. Mit der intelligent handwerklich umgesetzte Kapitalismuskritik der jungen bildungsbürgerlichen Anarchisten im Film „Die fetten Jahre sind vorbei“ haben diese Krawall- und Lynchjustizdrohungen gegen Wirtschaftslenker nichts zu tun. Die Krise ist, so meinen Fachleute, in Deutschland noch nicht in allen Konsequenzen und Auswirkungen spürbar. Gewalttätige Selbstjustiz gegen die im Feindbild „Heuschrecken“ dingfest gemachten leitenden Angestellten des Wirtschafts- und Finanzsektors empfinden wir als Handlungsoption der Krisenverlierer von der Straße undenkbar und abwegig. Wie schnell sich das Blatt wenden kann, zeigen jedoch gerade die Pogrome der Vergangenheit.

Zweifelsohne wird in unserem historischen Bewußtsein der russische Begriff „Pogrom“ (Zerstörung, Verwüstung) besonders mit gewaltsamen Ausschreitungen gegen jüdische Mitmenschen seit der Antike verbunden. Doch ist das Judentum nicht die einzige religiöse oder ethnische Minderheit, die Zielscheibe tatsächlich spontaner Ausschreitungen und eruptiv ablaufender Verfolgung war. Und bei nur wenigen Verfolgungen jüdischer Gemeinden in hellenistischen und später mittelalterlichen Städten lassen sich Planung und Lenkung nachweisen wie im 20. Jahrhundert in der notorischen „Reichskristallnacht“.

Daß die Zivilisation den Menschen von seiner rasenden Tollwut per invasivem Eingriff befreit hätte, ist ein Irrtum. Wir dürfen uns nicht in beruhigender Sicherheit wiegen, daß das 21. Jahrhundert uns Europäer nur als rationale und behutsam-zurückhaltende Mitmenschen erleben wird. Die große Depression zwischen den Weltkriegen im 20. Jahrhundert hat ihren Teil zu der Mär von der „kapitalistisch-jüdischen Weltverschwörung“ hinzugetan, schwindender Wohlstand hat immer die Verfolgungen von Minderheiten, von vermeintlichen Schuldigen begünstigt. Die Mißernten zu Beginn der Neuzeit haben die Hexenverfolgungen eingeleitet, der Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland ist auch eng mit der wirtschaftlichen Lage des Reiches in den 1920er und 1930er Jahren verknüpft. Auch bei Pogromen gegen jüdische Gemeinden in der Antike und im Mittelalter war der Neid ein besonders starker Motor, was wir an den begleitenden Bereicherungen durch Nicht-Juden, Forderungen nach Schutzzahlungen der jüdischen Gemeinden ablesen können.

Es gehört unbestreitbar zu den wichtigen Aufgaben des Zentralrats der Juden, auf jede antisemitistische Strömung und Intoleranz hinzuweisen und für Toleranz zu sensibilisieren. Doch gerade dieser Aufgabe wird die größte Vertretung jüdischer Gemeinden in Deutschland in diesem modus agendi nicht gerecht, es ist zu befürchten, daß sie vielmehr das Gegenteil erreicht: statt zu sensibilisieren, desensibilisiert sie. Mit dem reflexhaften verbalen Getöse, das eine Ungeheuerlichkeit von der nächsten ablösen läßt, stumpft sie ab für die wirklichen und grundlegenden Probleme, die Öffentlichkeit wird taub und wendet sich mit einem Schulterzucken anderem zu. Wer ständig „Feuer!“ ruft, den nimmt man nicht mehr ernst, wenn es wirklich brennt. Die wichtige Aufgabe des Zentralrats der Juden wie auch der Vertreter aller gesellschaftlicher Gruppen verlangt einen verantwortungsvollen Umgang mit der ihnen anvertrauten Position.

Die unablässige Einforderung von Toleranz und Sensibilität für Minderheiten und Andersdenkende in unserer Gesellschaft darf nicht in einem ritualisierten und mechanischen Responsorium von Empörung und Entschuldigung erstarren und sich damit erschöpfen. Ein wacher Geist kennt auch die „Unterscheidung“ (discretio), setzt Akzente in der Wahl seiner Mittel. Es mag im November 2008 übertrieben gewirkt haben oder gewesen sein, von der Verbreitung einer „Pogromstimmung“ zu reden; daß in manchen Kreisen eine solche Stimmung heute jedoch verbreitet ist und sich artikuliert, dürfte inzwischen offensichtlich sein. Gegen die gesellschaftliche Destabilisierung und damit in Folge gegen Intoleranz im Vorfeld klug zu wirken, muß gemeinsames Streben aller Kräfte in diesem Land und in Europa sein.


[*] Erstveröffentlichung in Der Freitag (Blog) am 27.03.09.
[1] Der Standard vom 12.03.09
[2] FAZ vom 26.03.09
[3] Die blindwütige Verdammnis aller Anzugträger
Wut über die Wirtschaftskrise: Die Hatz auf die Schlipsträger
Zitierweise:


Joachim Losehand: Das Zittern der Empörten, in: toleration 2day (Blog, 18.04.2009),
http://toleration.twoday.net/stories/2009041801

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